Die Welt befindet sich in Unordnung. Mit dieser Diagnose beginnt das „Manifest“, das die BILD-Zeitung veröffentlicht hat, um zur „Rettung“ Deutschlands aufzurufen. Viele Menschen würden dem vermutlich zustimmen, denn es passt ja durchaus zum Lebensgefühl einer Gegenwart, die von vielen, sich überlagernden Krisen und Katastrophen geprägt ist.
Wenn man von Unordnung spricht, spricht man aber gleichzeitig auch von einer Ordnung, die dieser Unordnung vorausgegangen ist. Wessen „Ordnung“ ist es also, deren angebliche Zerstörung die Springer-Presse so in Angst versetzt? Es ist die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ der Bundesrepublik, die angeblich in Gefahr ist. Was genau mit diesem Begriff gemeint ist, bleibt schwammig, da die politische Ordnung der BRD und das nationale Kollektiv („Wir“) sowie dessen angebliche Sitten und Werte gleichgesetzt werden.
Was der Zweck dieses „Manifests“ ist, wird also offen zu Protokoll gegeben: die nationale Einheit angesichts der Krisen stärken. Hier nimmt einer der größten Medienkonzerne der BRD, der Springer-Konzern, gewissermaßen seine Verantwortung ernst, Sprachrohr der herrschenden Klasse zu sein. Verschleiert werden soll, dass in der Gesellschaft handfeste Widersprüche existieren, z.B. zwischen Kapital und Arbeiter*innen. Stattdessen wird die Diagnose des „schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts“ gestellt, die ja immer schon darauf abzielt, dass trotz Ausbeutung und Unterdrückung ein „gesellschaftlicher Frieden“ herrschen soll. Das Problem wird dann in aller Regel als ein Problem der „Kultur“ und der „Werte“ diskutiert und so geschieht es auch in diesem Fall. Hier ein paar beispielhafte Thesen von BILD:
„4. Wer bei uns dauerhaft leben möchte, muss Deutsch lernen. Nur wenn wir dieselbe Sprache sprechen, werden wir uns verstehen.
9.Bitte recht freundlich: Wir sagen Bitte und Danke.
10. Wir geben uns zur Begrüßung oder zum Abschied gern die Hand.
45. In den sozialen Netzwerken sind Respekt und Wertschätzung genauso selbstverständlich wie im Supermarkt oder auf dem Amt.„
Was stets überdeutlich zum Ausdruck kommt – ob auf dem Titelbild, das eine brennende Barrikade auf der Sonnenallee zeigt, in der Einleitung oder in den Thesen – ist, dass quasi alle Probleme von außen ins deutsche Volk gebracht wurden. So weit also klassischer Nationalismus. Was aber tatsächlich bemerkenswert ist: nach Aussage der Autoren richtet sich der Text „an alle Menschen, die in Deutschland leben“ und ist auf Arabisch, Türkisch, Russisch und Englisch übersetzt. Es handelt sich also nicht um einen völkischen Nationalismus, wie er in Deutschland (auch nach 1945) lange üblich war, sondern um die Formulierung eines neuen, liberalen Nationalismus. Zutritt zum nationalen Kollektiv haben jetzt also alle, die sich nachweislich „deutsch“ genug verhalten. Alle anderen sind und bleiben selbstverständlich „Volksfeinde“. Die BILD vollzieht hier also eine Entwicklung, die schon länger in Gange ist und dem Umstand Rechnung tragen soll, dass die Bevölkerung der BRD durch Migration diverser geworden ist, also auch die ideologische Rechtfertigung des bürgerlichen Staats eines Updates bedarf.
Wie bereits erwähnt, die Feindbilder bleiben dennoch gleich:
„5. Jeder kann in Deutschland friedlich für seine Überzeugung demonstrieren. Zur freien Meinungsäußerung gehört nicht, Menschen zu bedrohen oder zusammenzuschlagen, Steine zu werfen, Autos anzuzünden, Mörder zu feiern.
6. Wir vermummen oder verhüllen uns nicht, wir schauen uns ins Gesicht (es sei denn, es ist Karneval oder Corona).
11. Wir verstehen die Polizei als „Freund und Helfer“, nicht als Repressionsapparat oder als Feind, als Gegner.
13. Es gilt das Gewaltmonopol des Staates. Außer den staatlich beauftragten Organen hat niemand das Recht, Gewalt gegen Menschen oder Sachen auszuüben.
17. Wir verstehen die Sozialbehörden nicht als Arbeitgeber, sondern als Institution, die Menschen in finanzieller Not hilft, Menschen, die nicht arbeiten können. Nicht Menschen, die nicht arbeiten wollen.
37. Wir erwarten von jedem, der kann und darf, dass er sich um Arbeit bemüht und für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommt – selbst dann, wenn Sozialhilfe oder Bürgergeld – zunächst höher sein sollten als der Lohn.“
Arbeitslose, „Randalierer“, „Vermummte“ und überhaupt jeder, der oder die den bürgerlichen explizit oder implizit Staat infrage stellt, ist also nach wie vor nicht Deutschland. Jede These ließe sich nun noch einmal gesondert analysieren und kritisieren, das würde aber an dieser Stelle zu weit führen und vermutlich auch vom eigentlichen Kern wegführen. Auf zwei Aspekte sei aber noch hingewiesen.
Der erste Aspekt ist der Bezug zum Nahostkonflikt. In der Einleitung heißt es: „Seit dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel erleben wir in unserem Land eine neue Dimension des Hasses – auf unsere Werte, die Demokratie, auf Deutschland.“Dementsprechend heißt es in These 8:
„Vor dem Hintergrund des dunkelsten Kapitels unserer Geschichte ist die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson! Das heißt: Das Eintreten für die Sicherheit des jüdischen Volkes ist nicht verhandelbar. Kritik an der Politik Israels ist selbstverständlich erlaubt. „
Was hier ausformuliert ist, ist nichts Neues: die bedingungslose Unterstützung Israels ist seit jeher die moralische Versicherung der BRD, aus der Vergangenheit „gelernt“ zu haben, um wieder ungestört imperialistischen Ambitionen nachgehen zu können. Logischerweise stören da die Palästinenser*innen, die sich weigern, sich von Israel vertreiben zu lassen und ihre Unterdrückung nicht weiter hinnehmen wollen. Dementsprechend sind alle, die von dieser Linie abweichen, auch Feinde des Erfolgs Deutschlands in der Welt.
Hingegen ist der letzte Aspekt, der hier behandelt werden soll, relativ neu. BILD vollzieht nämlich die Nutzbarmachung von (queer-)feministischen Parolen für den deutschen Nationalismus.
„15. Männer dürfen Männer lieben und Frauen Frauen. Wer damit ein Problem hat, ist selbst das Problem. Lieben und lieben lassen!
16. Auch wenn sich jemand weder als Frau noch als Mann fühlt, wird er oder sie nicht verfolgt oder bestraft. Bei uns dürfen Bürger quer denken und queer leben.
20. Frauen und Männer sind gleichberechtigt, in jeder Hinsicht.
21. Gleichberechtigung auch bei der Bezahlung von Arbeit (da müssen wir noch aufholen!)
48. Cat Calling, also Frauen hinterherzupfeifen oder -rufen, ist Belästigung.„
Der pädagogische Tonfall und das nationale „Wir“ machen klar: „Wir“ sind zivilisiert und haben die Geschlechterbefreiung (quasi) schon abgeschlossen, „denen“ muss man das erstmal beibringen. Nun mag man einwenden, dass solche Narrative natürlich nicht neu sind. Das stimmt, dennoch ist es bemerkenswert, dass die BILD ihnen jetzt einen solchen Raum in ihrem nationalistischen Manifest einräumt. Ziel ist ein nationales Projekt, auf das sich wohl vom liberalen Flügel der AfD bis zu Grünen und Regierungslinken wohl alle einigen können. Zu diesem Zweck werden feministische Diskurse aufgegriffen, aber ihres Gehalts beraubt und stattdessen nationalistisch umgedeutet – so als ob ein Deutscher niemals frauen- oder queerfeindlich sein könnte.
In die gleiche Kerbe schlägt wohl These 46: „Wir versuchen, die Umwelt zu schützen, Ressourcen zu schonen. Nachhaltigkeit ist Zukunft.“ Ein Satz, der verlogener nicht sein könnte. Aber wir sehen auch hier, dass rhetorische Zugeständnisse gemacht werden, um einen aktualisierten Nationalismus zu entwickeln, der scheinbar Antworten auf die Krisen unserer Zeit gibt.
Mittlerweile hat die BILD einen Folgeartikel veröffentlicht, in der ausgewählte positive Reaktionen von CDU, FDP, Grünen sowie aus der Deutschen Polizeigewerkschaft auf das Manifest abgedruckt wurden. Ziemlich einstimmig fordern dort führende Politiker*innen eine „Wende“ in der Ausländer- und Integrationspolitik. Begründet wird dies unter anderem mit palästinasolidarischen Demonstrationen, die pauschal als „antisemitisch“ und „Jubel für Terrorismus“ bewertet werden.
Es ist offensichtlich, dass Springer sich mit seinem Manifest strategisch in die Politik der BRD einmischen will, um die rassistische und antipalästinensische Stimmung in eine noch reaktionärere Politik zu übersetzen. Darüber hinaus muss dieses Projekt klar als Angriff auf das kritische Bewusstsein in der Gesellschaft gesehen werden, das sich angesichts der nicht mehr zu leugnenden existenziellen Krisen des kapitalistischen Systems immer einfacher breit machen kann. Neben der Vereinnahmung von progressiven Kämpfen ist aber natürlich der Ausschluss von „Volksfeinden“ der zentrale Hebel, mit der die Gesellschaft auf Linie gebracht werden soll. Diese werden nach wie vor hauptsächlich in „nicht integrationswilligen Ausländern“ gesehen, wobei sich eine ganze Reihe von „deutschen“ Verhaltensweisen herbeifantasiert werden muss, um den Kulturkampf von Rechts inszenieren zu können. Es gilt, dagegenzuhalten und Aufklärungsarbeit zu leisten!