Fragend schreiten sie voran – Das neue Gesellschaftssystem in Chiapas

Am 6. November hat die Zapatistische Bewegung die Auflösung der "Autonomen Rebellischen Landkreise" und der "Räte der guten Regierung" bekannt gegeben. Sogleich wurden weltweit Gerüchte laut, dass die zapatistische Selbstverwaltung dem Druck der kapitalistischen Kräfte um sie herum nicht länger standhalten konnte und nun endgültig ihre Niederlage eingestehen musste. Die Auflösung der Autonomen Rebellische Landkreise wurde als Auflösung der Selbstverwaltung als Ganzes interpretiert als finale Bankrotterklärung einer gescheiterten Bewegung. Einige Wochen und zwei Comunicados später ist nun aber klar, dass die Realität eine völlig andere ist.

Fragend schreiten sie voran – Das neue Gesellschaftssystem in Chiapas

Inhaltsverzeichnis

Am 6. November hat die Zapatistische Bewegung die Auflösung der „Autonomen Rebellischen Landkreise“ und der „Räte der guten Regierung“ bekannt gegeben. Sogleich wurden weltweit Gerüchte laut, dass die zapatistische Selbstverwaltung dem Druck der kapitalistischen Kräfte um sie herum nicht länger standhalten konnte und nun endgültig ihre Niederlage eingestehen musste. Die Auflösung der Autonomen Rebellische Landkreise wurde als Auflösung der Selbstverwaltung als Ganzes interpretiert, als finale Bankrotterklärung einer gescheiterten Bewegung. Einige Wochen und zwei Comunicados später ist nun aber klar, dass die Realität eine völlig andere ist. Es handelt sich keineswegs um eine Kapitulation, sondern um eine Erneuerung. Der Kampf der indigenen Völker für ihre Autonomie wird nicht eingestellt, sondern intensiviert. Die Umstrukturierung der Organisationsweise kann gewissermaßen als Ergebnis der kollektiven Erfahrungen aus 30 Jahren revolutionärer Praxis gesehen werden. 

Als am 1.1.1994 die seid über 10 Jahren unter höchster Geheimhaltung im Urwald von Chiapas gewachsene Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung (EZLN) ihren „Aufstand der Würde“ begonnen und weite Teile des Bundesstaates Chiapas befreit hatte, wurde sie umgehend zur Hoffnungsträgerin und Projektionsfläche der revolutionären Linken weltweit. Grade nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Verbündeten lieferte dieser Aufstand, der erste seine Art seit dem Ende des Realsozialismus, den Beweis dafür, dass das viel besungene Ende der Geschichte eben noch nicht erreicht ist und dass es immer noch möglich, ja sogar notwendig ist, sich aufzulehnen, die kapitalistische Ordnung anzugreifen und schlussendlich zu stürzen.

Hinter all der rebellischen Romantik, mit der der Dschungel Chiapas‘ umwoben ist, zeigt sich jedoch wie immer eine revolutionäre Realität, mit all ihren Problemen, Fehlern und Schwierigkeiten. Weder die mexikanische Regierung noch die mächtigen Drogenkartelle hatten auch nur eine Sekunde daran gedacht, das revolutionäre Projekt zu akzeptieren. Dennoch arbeiteten die Zapatistas inmitten der permanenten Angriffe kontinuierlich am Aufbau einer selbstverwaltenden Gesellschaft. Eine wahrhaftig demokratische Gesellschaft, in der der Wille des Volkes konsequent umgesetzt wird, sodass die Funktion der „Regierenden“ auf das bloße Ausführen und Umsetzen eben dieses Willens reduziert wird. Oder um die Worte der Zapatistas selbst zu verwenden: eine Gesellschaft, in der die Regierenden „dienen und nicht bedient werden“ und „Dinge vorschlagen aber der Bevölkerung nicht aufzwingen“. Dieses, für diesen Artikel stark vereinfachte Konzept tauften sie „Demokratie des gehorchenden Regierens“, es bildet bis heute den Grundstein der Zapatistischen Philosophie.

Als reines Gedankengebäude ist so eine Philosophie jedoch weitgehend nutzlos, wenig mehr als ein Hirngespinst. Wie bei allen anderen revolutionären Theorien erlangt auch die „Demokratie des gehorchenden Regierens“ ihren Wert erst durch die konkrete Umsetzung in die Praxis. Darum begannen die EZLN und ihre Unterstützer:innen umgehend mit dem Aufbau von Strukturen, die dieser Aufgabe gerecht werden konnten. Genau hier kommen nun eben die „Autonomen Rebellischen Landkreise“ und „Räte der guten Regierung“ ins Spiel, die vor Kurzem aufgelöst wurden. Sie waren der erste Versuch der Zapatistas, sich selbst zu verwalten, die erste gesellschaftliche Ausdrucksform der zapatistischen Ideale. Was sie aber explizit nicht waren, ist eine Struktur für die Ewigkeit. Subcomandante Insurgente Moisés formuliert das folgendermaßen: 

„Für die zapatistischen Pueblos waren sie (Die Landkreise und Räte) wie eine Schule der politischen Alphabetisierung: eine Selbst-Alphabetisierung.“ 

Das sie nicht bis ans Ende der Zeit Bestand haben, sondern sich vielmehr konstant weiterentwickeln würden, war also von Anfang an klar. Wenn sich die Umstände ändern, in denen sich selbst verwaltet wird, und sich auch die Bevölkerung verändert, die sich selbst verwaltet, muss sich auch zwangsläufig die Form der Selbstverwaltung ändern um nicht aus der Zeit zu fallen und unterzugehen. Im spezifischen Fall von Chiapas kommt zudem noch erschwerend hinzu, dass der Kapitalismus in seinem nicht enden wollenden Drang nach Expansion, nun auch in die entlegensten und vorher für ihn nahezu unbedeutenden Landstriche vordringt. Darunter fallen sowohl die Berge Chiapas als auch der Dschungel Indiens, in dem sich die maoistische Guerilla organisiert. Der Druck auf die Bevölkerungen und Bewegungen dieser Landstriche wächst dementsprechend kontinuierlich, auch das erfordert Weiterentwicklung. Im Falle Chiapas wird dieser Druck unter anderem durch das, von deutschen Konzernen unterstütze, Megaprojekt „Tren Maja“ und die Kartelle ausgeübt.

Eine ausführliche Analyse der aktuellen Lage in Chiapas hat Subcomandante Moisés bereits angekündigt. 

Bevor wir uns konkreter mit den neuen Strukturen als solche befassen, ist es noch wichtig zu betonen, dass sich bei der Auflösung der alten nicht um eine spontane Panikreaktion im Angesicht der eben erwähnten Aggression handelt, sondern um einen lange vorbereiteten Schritt. Ein Schritt der laut der Bewegung selber seid 10 Jahren diskutiert und seid 3 Jahren aktiv vorbereitet wird. Hierbei lohnt es sich einen Blick auf ein anderes Grundprinzip der Zapatistas zu werfen: Das „fragende Voranschreiten“, das Prinzip, dass jeder Schritt der gegangen wird, konstant hinterfragt und durch Kritik und Selbstkritik unermüdlich verbessert wird. Und so beruhen sowohl diese große Umstrukturierung der Selbstverwaltung, als auch all die kleinen, die ihr vorausgingen auf den Kritiken der „Base de Apoyo Zapatista“, der Zapatistischen Unterstützungsbasis, eben dem Volk selbst. 

Wenn man das neue System in einem Wort zusammenfassen müsste, dann wäre es wohl „Dezentralisierung“. Die Macht wurde in einem noch größeren Maße direkt in die Hände des Volkes gelegt. So treten nun an die Stelle der Autonomen Rebellischen Landkreise (MAREZ) die Lokalen Autonomen Regierungen (GAL). Diese ähneln in ihrer Funktionsweise Kommunen, wie sie etwa in den selbstverwalteten Regionen Nord- und Ostsyriens bestehen. Jedes Dorf regiert sich also ganz konkret selbst, Entscheidungen die das Dorf betreffen werden auf Grundlage der Zapatistischen Werte, im Dorf selber getroffen, ohne auf ein „höheres“ Organ angewiesen zu sein. Die Base de Apoyo Zapatista (also all die Menschen, die sich in Zapatistischen Strukturen organisieren) hat also noch viel direkten Einfluss auf das politische Geschehen als vorher. So soll auch Korruption und Machtmissbrauch, sowie eine Entfremdung zwischen den Selbstverwaltungstrukturen und der Bevölkerung verunmöglicht werden. Dass die Regierungsverantwortung jetzt zum größten Teil bei jedem Dorf selbst liegt, sorgt natürlich auch für eine deutlich kleinteiligere Organisierung. Im 9. Comunicado steht dazu folgendes: „Wenn es zuvor dutzende von Zapatistischen Autonomen Rebellischen Landkreisen, MAREZ, gab – gibt es nun Tausende von zapatistischen GAL (Lokale Autonome Regierungen).“ Auch der militärische Arm der Bewegung, die EZLN, wird zu einem großen Teil dezentralisiert, so soll jede Einheit dazu in der Lage sein, ihr Dorf im Notfall auch isoliert vom Rest der Bewegung zu verteidigen, die Unvereinbarkeit von zivilen und politischen Ämtern bleibt jedoch bestehen. 

Sollten die GAL die Notwendigkeit dazu sehen, können sie die Kollektive der Zapatistischen Autonomen Regierungen kurz CGAZ bilden. Hier können die GAL sich koordinieren und gemeinsame Planungen erarbeiten und umsetzen. Diese Instanz und ihre Konstellation, also welche GAL in welcher CGAZ sind und wann diese stattfinden ist hier nicht starr sondern fließend und flexibel. Die CGAZ können wann immer nötig „Gemäß ihren (den den GAL) Bedürfnissen, Notwendigkeiten, ihren Problemen und ihrem Vorankommen“ einberufen werden. Auch hier findet also eine Dezentralisierung statt – „Wo es zuvor 12 Räte der Guten Regierung gab – wird es nun Hunderte geben.“ 

Die letzte Ebene bilden die Vollversammlungen der Kollektive der Zapatistischen Autonomen Regierung (ACGAZ). Diese ersetzen die Zonen. Im Gegensatz zu den Zonen haben sie allerdings keine Macht im klassischen Sinne, alles was die ACGAZ beschließt, ja sogar alles was sie diskutiert, ist abhängig von und wird bestimmt durch die CGAZ, die wiederum vollständig von den GAL, also dem Volk selbst kontrolliert werden. Auch hier zeigt sich das deutlich mehr als vorher die Macht nun ganz konkret bei den Revolutionär:innen selber liegt. Und wie schon die CGAZ werden auch die Vollversammlungen nur noch bei Bedarf einberufen. 

Dem ein oder der anderen wird aufgefallen sein, dass die Beschreibung der Strukturen äußerst unkonkret ist, das liegt daran, dass die Zapatistas selbst ihre Strukturen meist nicht bis ins kleinste Detail erklären, geschriebene Gesetze oder gar eine Verfassung hat es in der zapatistischen Geschichte noch nie gegeben und wird es vermutlich auch nie geben. Die konkrete, auf dem Boden der indigenen Widerstandsgeschichte gewachsene und meist durch Fabeln und Metaphern erklärte Organisationsweise der Bewohner:innen des Lakandonischen Urwalds wird sich uns Außenstehenden wohl nie vollständig erschließen. Jeder Versuch, sie, wie es aus Europa nur zu gerne getan wird, bis ins letzte, noch so kleine Detail, zu vermessen, niederzuschreiben und in Schubladen zu stecken, ist zum Scheitern verurteilt. Das Ausschlaggebende ist aber, dass die wesentlichen Werte der Bewegung, ihre Grundsätze, wie das gehorchende Regieren oder das fragende Voranschreiten unberührt bleiben. Die Umstrukturierung ist sogar die direkte Folge des konsequenten Auslebens dieser Werte. Ein revolutionärer Prozess ist eben genau das: ein Prozess. Und wenn ein solcher Prozess erstmal zum Stehen kommt, verknöchert und sich langsam aber sicher Staub ansammelt, ist die Revolution als Ganzes bereits zum Scheitern verurteilt. Ja, es war die erste Änderung dieses Ausmaßes in der Geschichte der Zapatistas, aber es wird gewiss nicht die Letzte sein. Und zwischen diesem Entwicklungssprung und dem nächsten werden sich zahllose kleinere Schritte und Veränderungen befinden, die den großen Sprung erst möglich machen. Mit Sicherheit wurden in dem Moment, in dem ihr diese Worte lest bereits Veränderungen in den verkündeten Strukturen umgesetzt. Kurzum, die Revolution der Zapatistas ist trotz der brutalen Umstände alles andere als tot, sie lebt und entwickelt sich kontinuierlich weiter. 

Alle Statements der Zapatistischen Bewegung findet sich im Original hier.

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