Nicht nur Stark-Watzinger – Meinungsfreiheit an deutschen Schulen und Unis im Visier 

Ein Camp, ein offener Brief, eine Liste. Der Fördermittelskandal im deutschen Bildungsministerium bringt die Ministerin Stark-Watzinger (FDP) immer weiter in Bedrängnis. Doch der Fördermittelskandal ist nur die Spitze des Eisbergs. Eine Bildungsministerin, die in die Wissenschaftsfreiheit von hunderten Dozierenden eingreifen wollte, weil diese sich für das Recht auf Versammlungsfreiheit auch an Unis aussprachen ... ein Vorgang der klingt als käme er aus einem autoritären Regime, so passiert in Deutschland 2024. Doch der Fördermittelskandal ist nur die Spitze des Eisbergs.

Nicht nur Stark-Watzinger – Meinungsfreiheit an deutschen Schulen und Unis im Visier 

Vor 8 Monaten tötete die Hamas bei einem Angriff auf den Süden Israels 859 Zivilist:innen, 322 Soldat:innen und 58 Polizist:innen. 239 Menschen verschleppte sie in den Gazastreifen. Damit begann das Neuste Kapitel des Nahostkonflikts, der ein vielfaches Älter ist als die letzten Acht Monate. Ein Kapitel in dem mittlerweile weit über 30.000 Menschen in Gaza durch israelische Angriffe getötet wurden, und der Großteil der Bevölkerung innerhalb des kleinen Streifens vertrieben wurden.

Doch wie in kaum einem Konflikt war dem deutschen Staat von Anfang seine Positionierung in dem Konflikt klar; uneingeschränkte Unterstützung Israels.

Dies galt sowohl auf internationaler Bühne, auf der Deutschland der rechten Regierung von Netanyahu den Rücken freihielt, sondern auch innenpolitisch.

Von Beginn an ging die deutsche Polizei mit Rückendeckung aus Politik und Medien knallhart gegen eine sich spontan formierende Protestbewegung vor. Als durchweg antisemitisch wurden die Proteste von Beginn an deklariert, eine ernsthaft Auseinandersetzung der Motivationen der dort Protestierenden wurde dadurch im Keim erstickt und verhindert.

Gleiches traf auch die Uni-Besetzungsbewegung in Deutschland, die sich im Mai diesen Jahres wie ein Lauffeuer in verschiedenen Ländern ausbreitete.

Doch hier waren es neben der Polizei auch viele Unileitungen die alles in ihrer Macht stehende taten um nicht nur Camps auf den Unis, sondern auch jegliche kritische Auseinandersetzungen mit dem Krieg in Gaza zu verhindern.

Der Skandal um die Fördermittel-Liste im Ministerium ist dabei nur die Spitze eines Eisbergs an Repressionen und Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit an deutschen Unis und Schulen seit Oktober letzten Jahres.


Mit diesem Artikel möchten wir die bisher bekannten Fälle dieser Repression gegen Jugendliche sammeln und sichtbar machen. Sie setzt sowohl aus Presseberichten, als auch aus Berichten zusammen, die lokale Initiativen direkt an uns geschickt haben und von uns nicht direkt überprüft werden können.

Die folgende Chronik wird fortlaufend aktualisiert, ergänzt und korrigiert, wir bitten euch ausdrücklich, uns unter Jugendinfo@riseup.net oder per PN auf Instagram oder Signal (@JugendInfo.01) weitere Fälle zu schicken, bei denen Universitäten oder Schulen die Meinungsfreiheit von Schüler:innen oder Studierenden angegriffen haben.


Chronik:

9. Oktober 2023 – Berlin (Ernst-Abbe-Gymnasium):

Ein  14-jähriger Schüler hatte eine Palästina Fahne auf dem Pausenhof dabei. Als ein Lehrer versuchte, die Fahne abzunehmen, ging ein 15- jähriger Schüler dazwischen. Daraufhin schlug der 61-jährige Lehrer dem Schüler mit der Faust ins Gesicht, worauf hin sich dieser mit einem Tritt wehrte (Die Szene wurde gefilmt). Der Schüler wurde für eine Woche der Schule verwiesen, der Lehrer blieb ohne Konsequenzen im Dienst. Eltern berichteten, der Lehrer habe schon zuvor eine Schülerin wegen einer Palästina-Halskette aus dem Unterricht geworfen.
Eine Kundgebung der Elternvertretung gegen die Gewalt des Lehrers vor der Schule wurde ersatzlos verboten.

13. Oktober 2023 – Berlin:

Im November ermöglichte Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) Berliner Schulen, auch legale Meinungsäußerungen und Symbole unter Strafe zu stellen. In einem Schreiben schrieb sie: „Jede demonstrative Handlungsweise oder Meinungsäußerung, die als Befürwortung oder Billigung der Angriffe gegen Israel oder Unterstützung der diese durchführenden Terrororganisationen wie Hamas oder Hisbollah verstanden werden kann, stellt in der gegenwärtigen Situation eine Gefährdung des Schulfriedens dar und ist untersagt“. Dazu zählte sie aber auch ausdrücklich „Symbole, Gesten und Meinungsäußerungen, die die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht erreichen“, wie beispielsweise das Tragen der Kufiya (traditionelles palästinensisches Tuch) oder die Parole “Free Palestine” in Wort und Schrift.
Im Dezember beauftragte die Stadt private Sicherheitsfirmen für Schulen in Neukölln.

Januar 2024 – Köln (Universität):

Am 15. Januar war der Israelische Botschafter Ron Prosor im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Kölner Gespräche zu Recht und Staat” eingeladen. Einem Mitglied des Sozialistisch-demokratischen Studierendenverband (SDS) erteilte die Universität für den 14. und 15. Januar Hausverbot. Laut Rektorat sei zu erwarten, dass der Student “den vorgesehenen Veranstaltungsrahmen zugunsten von verbalen oder körperlichen Aktionen überschreiten könnt[e]”. Als Beweis nannte das Rektorat, er habe mit seinem privaten Instagram-Account Aufrufe zum Protest geliket und in seiner Story geteilt.
Das Kölner Verwaltungsgerecht kippte das Hausverbot nach einem Eilantrag des Studenten.

Mai 2024 – Göttingen (Georg-August-Universität):

Mehrmals meldeten Studierende Infostände auf dem Campus beim zuständigen Ordnungsamt an. In 4 Fällen kontaktierte die Univeritätsleitung das Ordnungsamt und behauptete, die Kundgebung könne nicht stattfinden da der gesamte Campus “in Nutzung” oder von einer “Sportveranstaltung” (Eine kleine einstündige Yogastunde an einem anderen Ort des Campus) belegt sei. Das Ordnungsamt entzog den Studierenden daher die Genehmigung für die Kundgebung. An den jeweiligen Tagen fanden auf dem Campus jedoch keine Sportveranstaltungen oder andere Veranstaltungen statt. Nachdem dem Ordnungsamt mit Fotos bewiesen wurde, dass die angemeldete Fläche frei war, wurden der Infotisch erlaubt.

Mai 2024 – Hamburg (Hochschule für bildende Künste):

Der Präsident der Hochschule soll Mitarbeitern angeordnet haben, jegliche Poster sofort zu entfernen, die einen Bezug zu Palästina haben. Darunter fielen solche mit Slogans wie “All eyes on Rafah”, “Ceasefire now” oder “Freedom for Palestine”.
Auf einem kursspezifischen Instagram-Account,der von Studierenden betrieben wird, wurden propalästinensische Inhalte geteilt. Daraufhin forderte die Hochschule die Kurstutoren dazu auf, die Login-Daten der Kurs-Accounts an die Uni zu senden. Somit sollen auch Professor:innen Zugriff auf die studentischen Accounts bekommen und kontrollieren können, was gepostet wird.

6. Mai 2024 – Göttingen (Georg-August-Universität): 

Studierende planten einen Vortrag mit dem Titel “Gaza: der andauernde Völkermord im Kontext der Nakba”. Dieser sollte im Stadtlabor stattfinden – ein Projektraum der Universität um “Wege zu einer kolonialkritischen Stadt zu erkunden”. Die Universität verbot den Vortrag kurzfristig wegen angeblichen “Brandschutz- und Sicherheitsbedenken”. Am gleichen Tag konnten andere Veranstaltungen ungestört in dem Raum stattfinden.

20. Mai 2024 – Frankfurt am Main:

Nachdem das Palästina-Camp an der Goethe-Uni in Frankfurt genehmigt wurde, forderte die Uni noch strengere Auflagen und versuchte so den Protest einzuschränken, unter anderem forderte die Uni ein Übernachtungsverbot.
Das Gericht wies die Forderung nach zusätzlichen Einschränkungen zurück, die geforderten Beschränkungen seien ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit.

24. Mai 2024 – Berlin (Humboldt-Uni):

Die Besetzung des Institut für Sozialwissenschaften wird von der Polizei geräumt, nachdem die Unileitung auf Anweisung der Berliner Landesregierung einen Räumungstitel ausstellt. Zuvor war die Besetzung durch die Unileitung noch geduldet worden.
Bei der Räumung kam es zu Angriffen von Polizeikräften auf Pressevertreter, Sexuellen Übergriffen durch die Polizei und sogar der kurzzeitigen Festnahme eines Anwaltes.

Juni 2024 – Hamburg (Universität):

Der Fachschaftsrat Sozialökonomie organisierte die 3. Ökosozialistische Konferenz an der Universität. Einer der 30 geplanten Workshops trug den Titel “Globaler Süden: Palästina – Wege zu einem solidarischen Zusammenleben”. Allein für diesen Workshop forderte die Vorsitzende des Allgemeine Studierendenausschusses (AstA) die Vorlage eines speziellen Sicherheitskonzepts. Als der Fachschaftsrat dies ablehnte, musste der Workshop abgesagt werden. 

3. Juli 2024 – Hamburg (Universität):

Es fand einen Ringvorlesung mit dem Titel “Judenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antizionismus – aktualisierte Formen antijüdischer Gewalt” statt. Berichten zufolge, sollen mehreren muslimisch gelesenen Studierenden  der Zutritt von Securitys verweigert worden sein. Obwohl einige Plätze frei waren und im laufe der Vorlesung frei wurden, argumentierten die Securitys mit “Brandschutzsicherheit”. Weiße Studierende hingegen sollen ungehindert durchgelassen worden sein.

Juli 2024 – Berlin (Gymnasium Tiergarten):

Dem Jahrgang, der in diesem Jahr Abitur macht wurde verboten eine Abi-typische Mottowoche zu veranstalten, nachdem sich Schüler:innen scheinbar unerwünscht zum Krieg in Palästina geäußert haben. In einer Whatsapp-Gruppe des Jahrgangs wurde eine Umfrage gestartet, wer bereit sei, sich auf der Abschlussfeier “für Palästina einzusetzen”. 49 von 105 Schüler:innen sollen dies bejaht haben. Als die Schulleitung von der Umfrage mitbekam, sagte sie die feierliche Abi-Verleihung ab. In dem Kino, in dem die Verleihung traditionell stattfindet, hat die Schulleitung kein Hausrecht, wodurch sie das Tragen von Kufiyas nicht verbieten könnten. 
Anstelle der Feier sollten sich die Schüler:innen in Kleingruppen ihre Zeugnisse am Donnerstag den 4.7.2024 in der Schule abholen. Viele blieben dieser Verleihung fern. In und in der Nähe der Schule waren 40 Polizist:innen im Einsatz und bewachten zusammen mit Securitys einer privaten Sicherheitsfirma die Aula. 
Am Freitag den 5.7.2024 demonstrierten etwa 40 Personen vor der Schule gegen diese Einschränkung. Der Unterricht wurde von um 12:30 beendet und die Schüler:innen wurden auf Ausflüge geschickt, damit sie nicht an der Kundgebung teilnehmen konnten.

10. Juli 2024 – Berlin (Kurt-Schwitters-Schule):

Bei der Zeugnisvergabe des Abi-Jahrgangs verlasen Rednerinnen ein Statement des Jahrgangs, in dem auf den Genozid an den Palästinensern aufmerksam gemacht wurde. Mehrere Abiturient:innen trugen zudem Kufiya. Daraufhin sendete der stellvertretende Schulleiter eine Stellungsnahme an die Eltern. Darin zeigt er sich “enttäuscht”, “[d]ass die Schüler*innen ihre feierliche Zeugnisübergabe dazu nutzen, ihre Familienangehörige, Gäste und ihre Lehrer*innen mit ihrem selbständig gewonnen Urteil zum besagten Konflikt zu konfrontieren”. Hätte er davon im Vorhinein gewusst, hätte er “notfalls die feierliche Zeugnisübergabe abgesagt”. Er kündigte an, zu überdenken, in Zukunft die Abiturreden der Schüler:innen vorher zu lesen und zu “zensieren”.

11. Juli 2024 – Karlsruhe (Institut für Technologie):

Der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband (SDS) plante einen Vortrag zum Thema “Folgen von Rüstungsforschung und Kooperationen am Beispiel Israel”. Dieser wurde genehmigt. Nur einen Tag, bevor der Vortrag stattfinden sollte, untersagte die Rechtsabteilung des Instituts den Vortrag. Aufgrund des Referenten Dr. Shir Hever könne “nicht ausgeschlossen werden […], dass kein konkreter Anlass für die Annahme besteh[e], dass die Veranstaltung rechtswidrigen oder verfassungsfeindlichen Zielen dien[e].”

Datum unbekannt – Hamburg (Universität):

Ein studentischer Mitarbeiter der Uni wurde von Vorgesetzten zu einem persönlichen Gespräch geladen, weil er auf seinem privaten Instagram-Account Solidarität mit Palästina gezeigt haben soll.

Datum unbekannt – Fulda (Hochschule):

Studierende verkauften auf dem Campus Kuchen um die Einnahmen für humanitäre Zwecke nach Gaza zu spenden. Mit einem Megafon informierten sie Studierende in der Mensa über ihren Kuchenstand. Ein Mensamitarbeiter griff die Aktivistin ohne vorherige Ansprache gewalttätig an um sie aus der Mensa zu bringen.

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