„Wir sind bereit, so lange zu bleiben, wie nötig“

Seit fast zwei Monaten wächst in Serbien eine breite Protestbewegung gegen Korruption. Aktuell besetzen Studierende im ganzen Land Unigebäude, teils ist von der größten Studierendenbewegung seit 1968 die Rede. Dieser Artikel wurde von einer Studentin aus Slowenien geschrieben und von uns übersetzt. Am vergangenen Wochenende besuchte sie mit einer kleinen Gruppe die Besetzung in der philosophischen Fakultät in Belgrad.

„Wir sind bereit, so lange zu bleiben, wie nötig“

Inhaltsverzeichnis

Belgrad, Serbien – Seit Anfang Dezember blockieren serbische Studierende den Zugang zu 62 von 80 Fakultäten in Belgrad, Novi Sad und anderen Orten des Landes und verwalten die Gebäude seitdem selbst. In erster Linie fordern sie, dass die Verantwortlichen für den Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad zur Rechenschaft gezogen werden. Am 1. November starben 15 Menschen, als das frisch renovierte Vordach einstürzte. Dies löste zahlreiche Protest aus, vergangenen Sonntag demonstrierten über 100.000 Menschen in der serbischen Hauptstadt.

Schon Anfang Dezember wurden Vorlesungen und sonstige Veranstaltungen an vielen Fakultäten eingestellt, wie zum Beispiel an der Fakultät für Chemie in Belgrad. Der serbische Fernsehsender Nova S berichtete , dass insgesamt 29 Fakultäten in den Städten Belgrad, Novi Sad, Nis und Kragujevac still standen, sodass weder Vorlesungen noch Prüfungen stattfinden konnten. Im Laufe des Dezembers weitete sich dieser Protest auf über 30 weitere Fakultäten aus.

Philosophische Fakultät in Belgrad

In den insgesamt 62 Unis, die im ganzen Land unter der Kontrolle der Studierenden stehen, ist der Zugang für Personen, die keine Studierenden der Fakultät sind, nahezu unmöglich, auch für Aktivist:innen. Trotzdem sind die Studierenden sehr dankbar für internationale Unterstützung und mediale Aufmerksamkeit, auch weil die meisten serbischen Medien wenig bis gar nicht über die Studierendenproteste und ihre Forderungen berichten.

Mit einer Gruppe ausländischer Aktivisten konnten wir uns am Freitag in gegenseitigem Einvernehmen erfolgreich der Besetzung an der Philosophischen Fakultät in Belgrad anschließen, wo wir einige Zeit mit den Studierenden verbrachten und das Leben in der Besetzung kennen lernten.

Der Zugang zur Fakultät war schwierig und erforderte einiges an Überzeugungsarbeit. Die Studierenden in der Besetzung sind in mehreren Arbeitsgruppen organisiert, darunter eine Sicherheitsgruppe. Diese kontrollierten vor dem Einlass, wer wir sind und ließen uns schließlich rein, da wir ebenfalls Studierende waren, wenn auch aus einem anderen Land. Uns half dabei, dass wir schon zuvor Kontakt zu einer Person innerhalb der Besetzung hatten, die mit dem Plenum gesprochen hatte, damit wir für ein paar Tage bleiben konnten.

Berichten zufolge sind andere besetzte Fakultäten noch strenger, wenn es darum geht, Außenstehende hereinzulassen.

Das Leben in der Besetzung

Als wir drinnen waren, bekamen wir einen Platz, um unsere Sachen abzulegen und begannen, die Besetzung zu erkunden. Die Studierenden, von denen viele hier schon seit Wochen leben, hießen uns herzlich willkommen und boten uns Essen und Getränke an. Obwohl sie sichtlich erschöpft waren, berichteten sie begeistert von ihren Erlebnissen, während wir ihnen von unserer langen Reise nach Belgrad erzählten.

Sie freuten sich, Interessierte aus anderen Ländern zu sehen. Die meisten von ihnen waren bereits seit drei Wochen in der Besetzung und sahen unser Interesse als Beweis für die internationalistische Solidarität unter den Studierenden. Wir verbrachten ein paar Stunden mit ihnen und diskutierten über die Politik in Serbien, die Medien, Zensur und Korruption. Sie schienen den Eindruck zu haben, dass ein Beitritt in die Europäischen Union Vorteile in Bezug auf Studentenwohnungen, Stipendien und das Leben im Allgemeinen mit sich bringen könne, aber nach einem wertvollen Erfahrungsaustausch entwickelte sich eine kritischere Sichtweise.

Es war schon deutlich nach Mitternacht, als ich verstand, wie die Besetzung für diese Student:innen zu einem Zuhause geworden war. Der Raum – einst ein Vorlesungssaal – war nun mit persönlichen Gegenständen übersät: Taschen, Jacken, Laptops, Notizbücher, die im Raum verstreut waren. Ein Student, der auch schon an anderen Protesten beteiligt gewesen war, sagte einen Satz, der mich zutiefst berührte: „Ich studiere hier schon seit drei Jahren und habe mich nie mit diesem Ort verbunden gefühlt. Aber jetzt, nach diesen Wochen, fühlt es sich endlich wie eine echte Gemeinschaft an – ein Zuhause.“

In den frühen Morgenstunden kehrte eine ruhige Atmosphäre ein. Die Studierenden bereiteten sich auf die Herausforderungen des nächsten Tages vor, während sich einige von uns im Büro eines Professors einquartierten, das zu einem provisorischen Schlafbereich geworden war. Erschöpft schliefen wir ein paar Stunden, denn wir wussten, dass ein großer Tag vor uns lag.

Vucic versucht, die Bewegung zu untergraben

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, sprach ich mit zwei weiteren Studentinnen, die von Anfang an bei der Besetzung dabei waren. Sie erklärten mir, wie die Regierung unter Präsident Aleksandar Vučić versucht, die Proteste mit populistischen Gesten zu schwächen. Er kündigte längere Winterferien und kostenlosen Nahverkehr für Studierende an, um den Anschein zu erwecken, die Regierung würde ihnen entgegenkommen.

Durch diese Methoden ließen sie sich jedoch nicht beirren. Die Studierenden durchschauten die Versuche, die Bewegung zu bändigen, und bleiben entschlossen, betonte ein Student: „Wir sind bereit, so lange zu bleiben, wie nötig – auch wenn es Monate dauert.“

Dann wurde ich den Student:innen vorgestellt, die für die Medienarbeit der Besetzung zuständig waren. Am „News Desk“, wie sie es nannten, herrschte reges Treiben. Inmitten von Notizblöcken, Laptops und Kaffeetassen koordinierten sie die Kommunikation mit verschiedenen Nachrichtenagenturen und Journalist:innen sowie die eigene Öffentlichkeitsarbeit. Es war eine faszinierend chaotische, aber sehr effektive Arbeitsatmosphäre, die wirkte wie in einer professionellen Nachrichtenredaktion.

Ein entscheidender Moment für Serbiens Jugend

Nachdem ich den Tag damit verbracht hatte, mit den an der Besetzung beteiligten Studierenden zu sprechen, war ich beeindruckt von der Entschlossenheit, die sich durch alle Teile der Besetzung zog – von der Sicherheitsgruppe bis zum Medienteam. Es ging ihnen nicht nur darum, Unigebäude zu besetzen oder die Vorlesungen zu verhindern, sondern darum, eine Bewegung aufzubauen. Diese Studierenden protestierten nicht einfach nur, sie schufen ihre eigenen Kommunikationswege und knüpften neue Verbindungen sowohl innerhalb Serbiens als auch international.

„Ich rebelliere also bin ich – und du?“

Dieses Gefühl der Zielstrebigkeit war während meiner gesamten Zeit in der Besetzung spürbar. Es war klar, dass die Student:innen nicht einfach auf ein politisches System reagieren, von dem sie sich verraten fühlen; sie arbeiten aktiv daran, die Zukunft Serbiens neu zu gestalten. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wird ihre unerschütterliche Entschlossenheit ausreichen, um die festgefahrenen Machtstrukturen, mit denen sie zu kämpfen haben, aufzubrechen?

Es geht nicht nur um Bildung

„Ich rebelliere also bin ich – und du?“

Als ich in den frühen Morgenstunden die Philosophie-Fakultät verließ, wurde mir die Tragweite dessen, wofür diese Studierenden kämpfen, erst richtig bewusst. Was als Reaktion auf ein tragisches Ereignis begann – den tödlichen Einsturz des Vordachs am Hauptbahnhof von Novi Sad – hat sich zu einer breiteren Bewegung gegen die Politik der derzeitigen Regierung entwickelt, von der sich viele Menschen, darunter auch Studierende, im Stich gelassen fühlen. Aber bei dieser Blockade geht es nicht nur um eine einzelne Tragödie, sondern um eine Konfrontation mit einem politischen System, das seit Jahren daran arbeitet, einige wenige zu begünstigen, während der Rest die Kosten tragen muss.

Die Student:innen, die ich getroffen habe, kämpfen nicht nur für ihr Recht auf eine zugänglichere Bildung oder Gerechtigkeit für die Menschen, die vor dem Bahnhof von Novi Sad ums Leben gekommen sind. Sie stellen die Entscheidungen einer Regierung in Frage, die sie als korrupt, zunehmend autoritär und ignorant gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung wahrnehmen. Mit jedem Tag, der vergeht, wird ihr Widerstand immer mehr als nur ein Protest; sie stehen ein für eine andere Zukunft – eine Zukunft, in der sich junge Serbinnen und Serben ein Leben frei von systemischer Korruption und Verwahrlosung vorstellen können.

Wer hat den längeren Atem?

Doch ob ihre Entschlossenheit zu einem echten Wandel führen kann, ist ungewiss. Die politische Landschaft Serbiens ist hart, und die Student:innen wissen, dass der Weg zum Sieg lang und unbequem ist. Die populistischen Gesten, wie kostenlose öffentliche Verkehrsmittel und verlängerte Ferien, zeigen, dass sich die Regierung der Gefahr durch die Studierenden bewusst ist. Doch sie lassen sich nicht entmutigen.

Die Frage bleibt: Wird die Regierung nachgeben, oder bleiben die etlichen Probleme im Land ein Teil der gesellschaftlichen Realität Serbiens? Wenn es diesen Studierenden gelingt, dass die Regierung sie ernst nimmt, könnte dies einen umfassenden Aufbruch in der serbischen Gesellschaft auslösen – einen Aufbruch, der eine Umgestaltung der politischen und wirtschaftlichen Systeme erfordert, die lange Zeit die Stimmen der Jugendlichen übergangen haben.

Bisher bleiben die Besetzungen bestehen, als Symbole des Trotzes und der Hoffnung. Die Studierenden haben gezeigt, dass sie bereit sind zu kämpfen – nicht nur für ihr Recht auf Bildung, sondern für eine Zukunft, die sie verdienen. Und so wie diese Bewegung wächst, ist es klar, dass nicht nur die serbischen Studierenden das Geschehen beobachten, sondern auch die Welt.

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