Doch diese Naturkatastrophe ereignet sich nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext menschengemachter Katastrophen. Im Folgenden wollen wir einen kleiner Überblick über die Mitschuld des türkischen Staates an dieser Katastrophe geben und warum die humanitäre Unterstützung nicht durch den türkischen Staat gesteuert, sondern direkt an die Bevölkerung gehen muss.
Kriegsmaschinerie des türkischen Staates und antikurdischer Rassismus
Der türkische Staat besitzt Militärtechnik, die nicht für humanitäre Hilfe genutzt wird. Zum Beispiel mobile Feldlazarette, Küchen oder unbemannte Luftfahrzeuge mit Wärmebildkameras, die helfen könnten, unter den Trümmern steckende Menschen zu finden. Sie werden nicht genutzt, weil sie nur für den Krieg gebaut wurden. Während den Angriffen des türkischen Staates auf die kurdische Selbstverwaltung in Nord-Ostsyrien im November vergangenen Jahres konnte der türkische Staat problemlos innerhalb weniger Tage 50.000 Soldaten mobilisieren. Heute, nach dem Erdbeben, sind nach Berichten gerade einmal 5.000 Soldaten im Einsatz.
Die Ressourcen der zweitgrößten NATO-Armee sehen keine Nothilfe für die Bevölkerung vor. Diese obliegt der allein dafür zuständigen und dem Innenministerium unterstellten Behörde für Katastrophen- und Notfallmanagement (AFAD). Diese Behörde wurde in den letzten Jahren stark heruntergewirtschaftet. Die seit 1999 erhobene „Erdbebensteuer“ wurde für den Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Autonomiebewegung zweckentfremdet. Auch jetzt, keine 24 Stunden nach dem Erdbeben, bombardierte der türkische Staat die vom Erdbeben betroffene Stadt Tel Riffat in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien. Der Beschuss der unzähligen Hilfesuchenden stellt ein Kriegsverbrechen dar.
Der staatliche antikurdische Rassismus und das politische Kalkül spiegelt sich auch in der Verteilung von Hilfsgütern wider. Die mehrheitlich von Kurd:innen und anderen Minderheiten bewohnten Städte und Dörfer werden von staatlicher Hilfe ausgespart. Es gibt keine Rettungsarbeiten, keine Unterkünfte, keine Heizmöglichkeiten, kein Brot und keine Zelte. Die überlebende Zivilbevölkerung ist mit der Bergung und Rettung der Überlebenden in den Trümmern vollkommen auf sich alleine gestellt. Wenn man in die jüngste Geschichte des türkischen Staates blickt, sieht man, dass das passive Morden der kurdischen Gesellschaft nach humanitären Katastrophen nichts Neues ist, beispielsweise bei dem Erdbeben von Lice 1975 und dem Erdbeben in der kurdischen Provinz Wan 2011. Dastan Jasim, doctoral researcher am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien veröffentlichte auf Twitter einen Überblick über die Geschichte der Instrumentalisierung von Erbeben durch die Türkei.
Gleichzeitig wird selbstorganisierte Hilfe verhindert; gesammelte Hilfsgüter der HDP und von NGOs für die Erdbebenopfer werden beschlagnahmt, genau das passiert auch mit den allermeisten Sachspenden die aktuell in vielen Ländern gesammelt werden, an der Grenze werden sie vom Staat konfisziert und so einer gleichmäßigen und gerechten Verteilung entzogen. Der türkische Staat leistet sich zudem den unbezahlbaren Luxus, Hilfsangebote aus Zypern auszuschlagen. Auch Hilfslieferungen der Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien die die Administration ohne politische Forderungen in die durch den türkischen Staat und islamistische Milizen besetzten Gebiete schicken wollte werden an der Weiterfahrt gehindert. All das sind Beispiele wie der türkische Staat versucht, sämtliche Hilfslieferungen zu zentralisieren und nach seinen Interessen zu steuern.
Repression und Behinderung der Berichterstattung
Bilder und Berichte der Menschen vor Ort, der NGOs und der Oppositionsparteien sind ungewollt und sollen nun durch die Verhängung des Ausnahmezustands verhindert werden. Die verheerenden Auswirkungen der Katastrophe und das Versagen der staatlichen Nothilfe sollen verschleiert werden. Wenige Stunden nach der Ausrufung des Notstandes durch Präsident Erdoğan wurden Journalisten, die in Amed (Türkisch: Diyarbakır) berichteten, von Sicherheitskräften mit Polizeigewahrsam bedroht. Ebenso Überlebende, die mit den Journalisten sprechen wollten. Noch am Mittwoch wurde in der Stadt dann der Journalist Mehmet Güleş sowie ein freiwilliger Helfer, der ihm ein Interview gab festgenommen. Die Polizei hat bereits über 200 Social Media-Account-Inhaber:innen ausgemacht, die „provokante Posts“ veröffentlicht haben, mindestens 31 Menschen befinden sich bereits in Polizeigewahrsam.
Zu diesen „provokanten Posts“ gehören unter anderem Aufnahmen aus dem Krankenhaus von Adıyaman, die mit Leichen überfüllte Gänge zeigen, welche alle provisorisch in Decken gewickelt sind. Anscheinend sollen diese Aufnahmen nicht an die Öffentlichkeit, weil sie das Versagen des Staates offensichtlich machen. So kurz vor den Wahlen in der Türkei wird der Staat besonders darauf achten, jedes Ereignis in seinem Interesse auszuschlachten und zu instrumentalisieren.
Korruption der staatlich organisierten humanitären Hilfe
Der türkische Staat und seine Kooperationspartner vor Ort, der Türkische Rote Halbmond und die Erdbebensteuer, sind dafür bekannt von Korruption durchzogen zu sein. Die Gelder werden zu großen Teilen zweckentfremdet und zur persönlichen Bereicherung von Personen im Umfeld von AKP und Erdoğan bzw. für Kriegstechnik genutzt, wie es der größte Korruptionsskandal in der Geschichte der Türkei bereits 2013 aufgedeckte.
In diesem Korruptionsskandal wurde die enge Verbindung von Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, mit Unternehmern vor allem aus der Baubranche bekannt. In den Nachrichten wurden Bilder von den Razzien gezeigt, bei denen riesige Mengen Geld in den Häusern inhaftierter Unternehmer sichergestellt werden konnte. Nach wenigen Wochen wurden allerdings alle Geschäftsleute wieder freigelassen. Die zuständigen Polizist:innen und Staatsanwält:innen wurden zunächst von dem Fall abgezogen, später entlassen und viele von ihnen verhaftet. Erdoğan nannte die Korruptionsermittlungen von damals einen „Putschversuch“ gegen ihn. Bis heute wurde dieser Korruptionsskandal nicht aufgearbeitet.
Die durch die Erdbebensteuer eingenommenen 37 Milliarden US-Dollar, die eigentlich für erdbebensicheres Bauen gedacht waren, sind ebenfalls zu großen Teilen in die Taschen regierungsnaher Baunternehmer geflossen . Nichts anderes ist mit den aktuellen Spenden für die Erdbebenschäden zu erwarten. Deswegen ist es um so wichtiger, die Hilfe jetzt an die richtige Stelle fließen zu lassen.
Naturkatastrophe? Politische Katastrophe!
Jede humanitäre Katastrophe wird von den Staaten instrumentalisiert und ausgeschlachtet, um ihre Machtinteressen voranzubringen. Der Krieg oder die Verteilung humanitärer Hilfe folgt dabei immer kalkulierten Zielen und niemals einem menschlichen oder selbstlosen Zweck. Mit der Verhängung des Ausnahmezustands wird die selbstorganisierte Hilfe verhindert oder stark eingeschränkt. Außerdem nutzt Erdoğan die Gunst der Stunde und die Erdbebenkatastrophe als Vorwand, die bevorstehenden Wahlen in den kurdischen Gebieten unter Ausnahmezustandsbedingungen stattfinden zu lassen.
Lösung liegt in der Solidarität und Selbstorganisierung der Bevölkerung
Überall in der Diaspora wurde damit begonnen, Krisenstäbe zu bilden, Hilfe zu organisieren und über Heyva Sor A Kurdistanê Spenden für die Erdbebenopfer einzusammeln, ganz nach dem Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung: „Das Prinzip der demokratischen Lösung ist nicht ein Modell, das auf den Staat abzielt, sondern auf der Demokratisierung der Zivilgesellschaft beruht.“ [Abdullah Öcalan]. Deshalb wollen wir auch nocheinmal dazu aufrufen über die bereits bekannten Kanäle von Heyva Sor zu spenden: