Angriffe auf Rojava – Nach den Wahlen ist vor dem Krieg

Es kam, was kommen musste. Vor knapp einem Monat wurde Erdoğan erneut zum Präsidenten der Türkei gewählt. Gut eine Woche später, seit dem 7. Juni, nimmt die militärische Eskalation der Türkei gegen die Selbstverwaltung in Nordsyrien nun wieder zu. Die militärischen Angriffe auf der einen, aber auch die geopolitische Lage in und um Syrien auf der anderen Seite, könnten die Selbstverwaltung einmal mehr existenziell gefährden.

Angriffe auf Rojava – Nach den Wahlen ist vor dem Krieg

Inhaltsverzeichnis

Es kam, was kommen musste. Vor knapp einem Monat wurde Erdoğan erneut zum Präsidenten der Türkei gewählt. Gut eine Woche später, seit dem 7. Juni, nimmt die militärische Eskalation der Türkei gegen die Selbstverwaltung in Nordsyrien nun wieder zu. Die militärischen Angriffe auf der einen, aber auch die geopolitische Lage in und um Syrien auf der anderen Seite, könnten die Selbstverwaltung einmal mehr existenziell gefährden. 

Nicht nur in der Türkei hatten Millionen von Menschen darauf gehofft, dass Erdoğan als Staatsoberhaupt abgelöst werden würde. Auch im angrenzenden Ausland, besonders in Rojava, sehnten sich die Menschen nach einem Politikwechsel in Ankara. Auch wenn mit Kemal Kılıçdaroğlu nie eine linke, progressive Alternative zum faschistischen Erdoğan zur Wahl stand, gab es quer durchs linke Spektrum die Hoffnung, es könne einen politischen Kurswechsel geben. Nicht unbedingt dahingehend, dass es einen neuen politischen und gesellschaftlichen Diskurs um die sogenannte Kurdenfrage in der Türkei gebe. Aber zumindest hinsichtlich einer Entschärfung der militärischen Eskalation der Türkei gegen Rojava und Kurdistan. Spätestens seit dem 28. Mai hat der in der Türkei vorherrschende islamistische Nationalismus diese Hoffnung ausradiert. 

Zur aktuellen Situation in Rojava 

Seit dem 7. Juni eskaliert Erdoğan erneut seinen Krieg gegen Rojava. Diese Eskalation fand am Dienstag, den 20. Juni, bis dato ihren traurigen Höhepunkt. Mit einer Kampfdrohne wurden Yusra Derwêş, Lîman Şiwêş und Firat Tuma ermordet – zwei Politikerinnen und deren Fahrer. Yusra Derwêş war die Ko-Vorsitzende des Kantons Qamişlo, Lîman Şiwêş ihre Vertreterin. Die Türkei tötet weiterhin ziviles Personal der Selbstverwaltung und versucht so, diese zu destabilisieren. Insgesamt sind innerhalb der letzten Woche 17 Menschen durch türkische Angriffe getötet worden. In Tel Rifat wurde außerdem ein Krankenhaus von Granaten beschossen. Die Angriffe mit Kampfdrohnen, Artillerie und Granaten richten sich vor allem gegen die Regionen Minbic, Efrîn, Şehba und Qamişlo und wurden sowohl aus der Luft, aus der Türkei als auch aus den türkisch-besetzten Regionen in Rojava durchgeführt. Die Selbstverwaltung hat sich bereits an die internationale Anti-IS-Koalition, Russland sowie das Regime in Damaskus gewandt, damit diese intervenieren. Die stark erhöhten militärischen Aktivitäten der Türkei betreffen übrigens nicht nur Rojava: auch in Başûr, Südkurdistan, nehmen seit einigen Tagen die Angriffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete der Gerîla weiter zu. 

Um die Intensität dieses Krieges zu verstehen, ist es wichtig, genauer auf die Bedeutung der gezielten Tötungen von zivilem Personal einzugehen. Seit Beginn der Angriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien werden immer wieder nicht-militärische Ziele angegriffen. Ein Beispiel ist der Fall von Hevrîn Xelef: Die Politikerin wurde im Zuge der Invasion im Oktober 2019 von islamistischen Banden gezielt ermordet. Die Türkei zielt absichtlich auf Politiker:innen und Mitglieder der Selbstverwaltung mit jahrelanger Erfahrung. Die Angriffe finden nicht auf Landstraßen außerhalb der Städte statt, sondern oftmals direkt in Wohnvierteln. Aufgrund des basisdemokratischen Systems in Rojava besteht eine starke Nähe und Verbundenheit zwischen Politiker:innen und der Zivilbevölkerung. Yusra Derwêş und Lîman Şiwêş waren trotz ihres wichtigen politischen Amtes in die Bevölkerung eingebunden. Die Botschaft der Türkei an die Bevölkerung ist durch die Tötungen unmissverständlich: Sobald man sich mit den Strukturen der Selbstverwaltung einlässt, läuft man Gefahr, selbst Opfer eines türkischen Angriffes zu werden. Die psychische Belastung einer solchen Kriegstaktik ist nur schwer auszuhalten und nur mit Terrorismus vergleichbar. Die Türkei versucht so systematisch das Vertrauen der Bevölkerung in die Selbstverwaltung zu untergraben, unabhängig davon, wie diese eigentlich zur Selbstverwaltung steht oder wie zufrieden sie mit der politischen und sozialen Lage ist. 

Zudem ist es wichtig, sich die in Rojava vorherrschenden gesellschaftlichen und infrastrukturellen Verhältnisse anzuschauen, auf die diese Angriffe treffen. Nämlich auf eine Gesellschaft, die nach vielen Jahren des Krieges von der internationalen Gemeinschaft weitestgehend isoliert ist. Die Selbstverwaltung erhält von staatlicher Ebene quasi keine Hilfsmittel zum Wiederaufbau ziviler Infrastruktur, geschweige denn medizinische oder hygienische Unterstützung. Die Menschen in Rojava sind vor allem auf sich selbst, sowie auf Hilfe linker NGOs angewiesen. Während für Menschen in der westlichen Hemisphäre das Erdbeben in der Türkei und Rojava vom Februar nicht mehr als eine Tragödie der Vergangenheit ist, sind dessen Folgen für die Menschen vor Ort noch immer bittere Realität. 

Geopolitik als entscheidender Faktor

Bereits seit Jahren bewegt sich Rojava in einem Spannungsfeld geopolitischer Großmächte, die vor allem in Syrien versuchen, ihre Interessen durchzusetzen – nicht selten zulasten der Selbstverwaltung. 

Am 21. Juni fand in der Hauptstadt Kasachstans das sogenannte Astana-Treffen zwischen außenpolitischen Vertretern der Türkei, Syrien, Russland und dem Iran statt. Vertreter der Selbstverwaltung waren nicht eingeladen. Bereits das ist ein Erfolg für Russland, denn dessen Außenpolitiker bemühen sich seit Sommer letzten Jahres um eine Verständigung zwischen Ankara und Damaskus. Auch wenn die Ergebnisse dieses Treffens noch nicht öffentlich sind (und wahrscheinlich auch nie sein werden), ist anzunehmen, dass es dabei um die Zukunft Syriens nach den Vorstellungen der vier Regierungen ging. Was das konkret für die Selbstverwaltung bedeutet, ist noch nicht abzusehen. 

Generell scheint die Selbstverwaltung aus Sicht Russlands, Syriens und Irans derzeit keine Priorität zu haben. Das zeigen die militärischen Entwicklungen: Bei einem türkischen Angriff wurde ein russischer Soldat getötet, drei wurden verletzt. Eine Reaktion aus Moskau dazu gab es nicht. Das Desinteresse lässt sich vermutlich mit der schwierigen Situation des russischen Militärs in der Ukraine erklären. Dass Russland in Syrien derzeit weniger engagiert ist, hat wiederum weitreichende Folgen: Russland ist die Schutzmacht des syrischen Machthabers Assad. Mit schwindendem russischen Einfluss fehlt es dem Regime an politischer und militärischer Stärke. Nur so lässt es sich erklären, dass ein Aufschrei Assads Richtung Ankara ausblieb, als zuletzt auch fünf syrische Soldaten bei einem türkischen Luftangriff getötet wurden. Und das, obwohl aus Damaskus offiziell die Forderung kommt, die Türkei solle sich von syrischem Territorium (und damit sind die türkisch-besetzten Gebiete in Rojava gemeint) zurückziehen. Assads derzeitige Priorität, die mit dem Erdbeben vom Februar bereits begonnen hat, ist sich aus der internationalen Isolation zu befreien. Dabei ist er auch erfolgreich. Die Wiederaufnahme Syriens in die arabische Liga kann darunter verbucht werden, wäre aber auch ohne das Zutun des Irans, dessen Einfluss in Syrien weiter zunimmt, wohl nie möglich gewesen.

Die Rolle der „feministischen Außenpolitik“

Die Rolle der Ampel-Regierung in dem Konflikt kann als die Kontinuität ihrer Heuchelei gewertet werden. Die „feministische Außenpolitik“ die weiterhin so vollmundig propagiert wird, ist auch in der Frage Kurdistans nichts weiter als ein viel zu kleines Feigenblatt, das davon ablenken soll, wie ungebrochen die Waffenbrüderschaft Deutschlands mit Despoten aus aller Welt ist. Das einzige Ziel scheint zu sein, den eigenen Wählerinnen und Wählern ein gutes Gewissen zu machen. Noch vor wenigen Monaten war der Slogan der kurdishcen Freiheitsbewegung „Jin, Jîyan, Azadî“, das beliebteste Fotomotiv im politischen Berlin – gerade bei den Grünen. Geht es aber um den tatsächlichen Krieg, den die Türkei gegen genau die Frauenbewegung führt, die diesen Slogan geprägt hat, sind sie unverändert still. Dass es sich dabei nicht um Desintresse sondern eine bewusste Unterstützung handelt, zeigt nicht zuletzt auch ein Foto, das das Auswärtige Amt am Tag nach dem Mord an Yusra Derwês und Lîman Şiwêş auf Twitter veröffentlichte: Annalena Baerbock und ihr neuer türkischer Amtskollege Hakan Fidan in trauter Einheit.

„Mehr als ein Kennenlernen: mit ihrem neuen türkischen Amtskollegen @HakanFidan sprach @ABaerbock heute u. a. über die türkischen Bemühungen zur Verlängerung der #BSGI, die Lage in Nordsyrien & den #NATO-Beitritt Schwedens. Beide wollen das Gespräch bald in Berlin fortsetzen.“ heißt es da. Anscheinend wurde also auch die Lage in Nordsyrien explizit besprochen. Hakan Fidan ist dabei aber kein einfacher Parteigänger, der sich zum Außenminister hochgeschlängelt hat. Als Chef des türkischen Geheimdienstes war er nicht nur für der Lieferung von Waffen an den IS verantwortlich, sondern auch für den Mord an drei kurdischen Aktivistinnen in Paris 2013, unzählige gezielte Tötungen in ganz Kurdistan und auch für die Verfolgung von Oppositionellen hierzulande. „Mehr als ein Kennenlernen“ also, durch das der türkische Einfluss mit Sicherheit auch auf die deutschen Verfolgungsbehörden weiter steigen wird. Auch wenn der Bundestag mittlerweile den Genozid am ezidischen Volk durch den IS anerkannt hat erreicht die moralische Verwerfung grüner Politiker:innen somit eine neue Qualität. Sich mit einer Person zu treffen, die noch enger mit dem IS verbunden ist, wäre wohl nur durch ein Handshake mit al-Qurashī, dem jetzigen IS-Chef persönlich, möglich.

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